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Jedermanns Liebling...

oder die Kunst NEIN zu sagen

Wien letztes Jahr. Es war schon fast filmreif. Ich sitze in der Tagesbar "Everybodys Darling" im 1. Bezirk und lausche meinen Tischnachbarinnen. Das Gespräch war in etwa so: "Ich bin immer erreichbar. MeineTür steht immer offen. Ich höre zu, tröste und weiß immer Rat wenn sie nicht weiter weiß. Und wenn ich mal Hilfe brauche, dann hat sie keine Zeit. Da bin ich geplatzt, sag ich dir."

Vielleicht kennst du das ja auch. Du bist da. Für alle. Immer......nur nicht für DICH. Während du deine Energie darauf verwendest, die Trümmer im Leben anderer aufzukehren, verwahrlost dein eigenes. Das Gefühl immer für andere da sein zu müssen, ist eine tief verwurzelte Verhaltensweise, die  oft mit dem Bedürfnis nach Anerkennung, Angst vor Ablehnung oder alten Prägungen (z.B. aus deiner Kindheit) zusammenhängt. Aus dieser „Falle“ herauszukommen, ist möglich – aber es braucht Selbstreflexion, Grenzen und manchmal Unterstützung von außen. Vor allem aber braucht es den Mut aufrichtig in deine Schattenthemen zu blicken. Denn deine Aufopferung ist vielleicht gut gemeint, aber es kann einfach auch sehr übergriffig sein. Warum?

Du entziehst anderen die Verantwortung für ihr eigenes Leben

Wenn du ständig „einspringst“, nimmst du anderen die Möglichkeit, selbst zu handeln, zu lernen, Fehler zu machen und zu wachsen. Damit entziehst du anderen sehr schnell die Verantwortung für ihr eigenes Leben weil du denkst, du kannst es besser oder überhaupt nur DU kannst es. Möglicherweise drängst du dich auch auf, ohne gefragt worden zu sein. Hilfe anbieten ist okay, versteh' mich nicht falsch. Nur manch einer möchte einfach nur gehört werden. Wenn du dann immer gleich mit deinem gut gemeinten Rat oder deiner Hilfe reinkrätscht, dann setzt das dein Gegenüber gewaltig unter Druck. 

Die Dame deren ich wie eingangs erwähnt, im Café zuhörte, hat sogar "emotionale Schuldscheine" ausgestellt und die andere wegen unterlassener Hilfeleistung an den Pranger gestellt. Ihr "Immer-da-sein" ist definitiv an eine Erwartung gekoppelt. 

Du gehst über deine eigenen Grenzen

Wenn du dich ständig aufopferst und dann erschöpft, enttäuscht oder verbittert bist, trägst du diese Last irgendwann nach außen. Und das ist nicht fair. Weder dir noch deinen Mitmenschen gegenüber. Weil... möglicherweise ist es ja auch ein Schutzmechanismus, der dich davon abhält dich mit deinen eigenen Themen zu beschäftigen UND dich davor schützt dein Leben eventuell grundlegend zu überdenken oder auch zu verändern. Was also kannst du tun?

 

Erkennen, dass es eine Falle ist. Dazu könntest du dir folgende Fragen stellen:

  • Tue ich das gerade freiwillig oder weil ich denke, ich muss?
  • Habe ich Angst, abgelehnt zu werden, wenn ich "nein" sage?
  • Habe ich Raum für meine eigenen Bedürfnisse?

Viele Menschen, die immer für andere da sind, merken erst spät, wie ausgelaugt sie sich fühlen. Das Erkennen ist der erste Schritt zur Veränderung.

 

Nimm deine eigenen Bedürfnisse erst!

Schreibe mal eine Woche täglich auf, was du für dich getan hast und was für andere. Du kannst deine Wachzeit als Kreis zeichnen. Weil ich so gerne Kuchen esse, würde ich "Torte" dazu sagen. Wieviele Kuchenstücke (Tageszeit) widmest du dir und deinen eigenen Bedürfnissen (und das kann auch einfach nur Tagträumen sein!), und wieviel gibst du auf die Teller anderer Menschen?

 

Grenzen setzen lernen (ohne Schuldgefühl)

"Nein" sagen, heißt nicht, dass du selbstsüchtig bist, sondern sehr gesund selbstverantwortlich. Zugegeben das braucht Übung. Aber jeder der Meister werden will braucht Übung. Das bedeutet für dich: sag zur Übung lieber einmal mehr Nein als Ja. Fordert in deiner Übungsphase jemand deine Hilfe, dann könntest du sagen: "Ich würde sehr gerne helfen, aber heute brauche ich Zeit für mich." Oder du sagst: "Das passt gerade nicht für mich. Ich hoffe du findest eine andere Lösung."

 

 

Erkenne die Herkunft deines "Helfersydroms"

Oft liegt dieses Muster tief in der Kindheit begründet. Wer gelernt hat dass er immer nur Liebe bekommt, wenn er etwas liefert, trägt das im Erwachsenenleben weiter. Es ist aber nicht dein Nutzen, der dich ausmacht. Es ist dein pures SEIN. Das wirst du wahrscheinlich nicht glauben wollen, denn du hast das so nie erlebt oder, wenn es dir jemand vielleicht so entgegen gebracht oder gar gesagt hat, nicht zugelassen. Vielleicht nimmst du dir jetzt einmal etwas Zeit und überlegst dir in aller Ruhe, was dich als Mensch ausmacht, unabhängig von deiner Hilfsbereitschaft. Wenn dir nicht gleich etwas einfällt, geh ein paar Tage mit dir selbst durch den Tag. Ganz so, als würdest du neben einer guten Freundin herlaufen, bei der du für dich herausfinden möchtest, weshalb du sie eigentlich so sehr magst. 

Und dann starte klein: Setze heute eine Granze. Nimm dir morgen eine Stunde nur für dich. Beobachte, was das mit dir macht. Du wirst sehen, die Welt bricht nicht zusammen. Möglicherweise aber werden die Menschen um dich herum erstmal nicht mögen, dass du dich wichtiger nimmst als sie. Das, geliebte Seele, erfordert Mut. Denn wahrlich, diese Gesellschaft hat uns dazu erzogen, uns an letzte Stelle zu setzen. Das aber ist ganz klar eine Verdrehung. Eine sehr ungesunde, wie du ja schon weißt. Denn wenn du den Artikel bis hier hin gelesen hast, vermute ich, bist du eine der Kandidaten, die mal gerne etwas mehr als nötig "für andere da sind". 

Fazit

Wahre Fürsorge bedeutet auch, sich zurückzunehmen. Manchmal ist echtes Mitgefühl nicht, da zu sein – sondern den Raum zu lassen, dass andere ihren eigenen Weg gehen dürfen. Auch wenn es wehtut, sie stolpern zu sehen. Du bist kein besserer Mensch, wenn du dich für andere vergisst. Mit Sicherheit wirst du jedoch freier, sobald du erkennst, dass echte Nähe nur ohne Zwang entsteht. Und, dass wahre Freunde nur jene sind, die dich genauso schätzen und lieben wie du bist, ohne eine besonderen Nutzen von dir zu haben.

 

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